Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle
Wächtergasse 1 & Wallnerstraße 8, 1010 Wien
»
Paul F. Lazarsfeld - Marie Jahoda - Konsum - Marienthal - Charlotte und Karl Bühler - Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum - Wiener Arbeiterkammer

Bilder

logo wirtschaftspsychologische forschungsstelleDie „Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“ wurde am 27. Oktober 1931 von Paul Lazarsfeld als „Sozialpsychologischer Verein“ gegründet, dessen Name allerdings bereits bei der Konstituierung geändert wurde. Zum Präsidenten der als Verein gegründeten Forschungseinrichtung wurde Karl Bühler ernannt, während Lazarsfeld bis zu seiner Emigration in die USA als wissenschaftlicher Leiter fungierte; nach ihm wurde die Leitung von Hans Zeisel und später von Marie Jahoda und Gertrude Wagner übernommen (vgl. Müller 2006).

Als österreichische Stelle für Motivforschung war es das primäre Ziel, unter Anwendung psychologischer und sozialpsychologischer Forschungsmethoden das Konsumverhalten und die Präferenz der Käuferinnen und Käufer aus verschiedenen sozialen Schichten zu untersuchen. Die Marktanalysen waren mit Lazarsfelds Entwicklung des „market research“ möglich, die allesamt einem „Generalschema“ folgten und deren Ergebnisse von „Verkaufs- und Konsumbarometern“ begleitet wurden (vgl. ebd.). Neben diesen Untersuchungen wurden auch unentgeltliche Studien durchgeführt, etwa über das Bildungsniveau des Großstädters oder den Lebensstandard der Wiener Bettler. Das eingenommene Geld der Forschungsstelle wurde schließlich verwendet, um größere sozialpsychologische Untersuchungen finanzieren zu können; so auch die im Rahmen der Forschungsstelle durchgeführte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal.

Da sich der Verein ein Jahr später allerdings aufgrund interner Differenzen freiwillig auflöste, gründete Marie Jahoda in weiterer Folge die „Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“.  Für sie war die Forschungsstelle
„eine ganz einzigartige und ganz wienerische Erfindung. Es war weniger ein Forschungsinstitut als ein Lebens-stil.“ Sie betrachtete den Verein nämlich nicht als ein kommerzielles Unternehmen, sondern vielmehr als Freundeskreis, den die große Faszination verband, mittels neuer Methoden der empirischen Sozialforschung auch politisch gehaltvolle Erkenntnisse aus dem Konsumverhalten erschließen zu können (vgl. Greffrath; Jahoda 1979 zit. nach ebd.).(Greffrath/Jahoda 1979 zit. nach Müller: 2006) Nach dem Verbot der SDAPÖ im Jahre 1934 nutzte Jahoda das Büro der Arbeitsgemeinschaft als „Poststelle“ für die „Revolutionären Sozialisten“ (RSÖ). Zwei Jahre später fand im Büro aufgrund des Verdachts der Unterstützung jener illegalen Partei eine Hausdurchsuchung statt, und Marie Jahoda wurde anschließend verhaftet. Infolgedessen übernahmen im Januar 1937 Hermann Maria Spitzer und die Wiener Rechtsanwaltsehefrau Ilse Bachrach die Leitung der Forschungsstelle, bis das Unternehmen im März 1937 restlos stillgelegt wurde.

Entstehung der Forschungsstelle
Die konzeptuellen Anfänge der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle reichen bis in die 1920er Jahre zurück (vgl. Fleck 1990a: 159). So hatte angeblich eine Studentin Paul Lazarsfeld auf die Idee zur Marktforschung gebracht, als sie ihm erzählte, dass sie im Auftrag einer amerikanischen Firma Interviews über den Kauf von Seife durchzuführen hatte (vgl. Lazarsfeld 1975, zit. nach: Wacker 1998: 121). Nach der Auffassung Jahodas kam in einer Diskussion mit Lazarsfeld und Hans Zeisel außerdem die Idee auf, ein Radio-Barometer zu entwickeln, um daraufhin mittels Bevölkerungsumfrage messen zu können, ob und warum die Bevölkerung Radio hörte oder nicht (vgl. Greffrath/Jahoda, zit. nach: Müller 2006). Dabei wollte man mit mithilfe der Forschungsstelle demnach eine Plattform schaffen, die mehr sozialpsychologische Forschung in Österreich ermöglichen sollte. Zum anderen sollte durch die Marktforschung sicherlich auch die finanzielle Existenz der Forscherinnen und Forscher, die mit Ausnahme Lazarsfeld beinahe alle keine fixe Anstellung an einem Institut hatten, gewährleistet werden.
Ohne das Mitwirken von Karl und Charlotte Bühler, deren wissenschaftlichem Prestige und ihren guten Kontakten in Wirtschaft und Politik wäre dabei eine solche Gründung wohl nicht möglich gewesen. Der genaue Zeitpunkt der Gründung der Forschungsstelle ist aufgrund der unterschiedlich genannten Daten der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und der fehlenden Unterlagen des Archivs unklar (vgl. Wacker 1998: 120f). Folglich wird zumeist der 27. Oktober 1931 im Zuge der formellen Eintragung ins Vereinsregister als offizielles Gründungsdatum genannt.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Vorstand der Forschungsstelle
Die Forschungsstelle wurde von einem 38-köpfigen Beirat unterstützt: Das Präsidium der Forschungsstelle setzte sich aus dem Präsidenten der Kammer für Handel und Gewerbe, dem Generalsekretär der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien und Niederösterreich sowie dem Generalsekretär der Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer zusammen. Das Kuratorium war von prominenten Professorinnen und Professoren, hohen Beamten, führenden Funktionären der Interessensvertretungen und Geschäftsleuten besetzt. Wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle war zunächst Paul Lazarsfeld, bis dieser im Jahre 1933 mit einem Rockefeller-Stipendium in die Staaten emigrierte; allerdings war die Staatswissenschaftlerin Lotte Radermacher als offizielle Leiterin des Büros tätig. Die Juristin und Soziologin Gertrude Wagner arbeitete als Schriftführerin, während der Jurist und Staatwissenschaftler Hans Zeisel, der später mit Lazarsfeld und Jahoda die Marienthal-Studie veröffentlicht hatte, leitender Sekretär und später selbst Leiter des Vereins wurde. Zu einem weiteren Wechsel der Führungsposition kam es im Jahre 1934, als nach Zeisel die wissenschaftliche Leitung von Marie Jahoda gemeinsam mit Gertrude Wagner übernommen wurde (vgl. Müller 2006). Auch zwei Mitglieder des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums, Fritz Jahnel und Marie Schneider, hatten bei der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle gearbeitet. Einen Großteil der Angestellten machten die zunächst als Rechercheurinnen und Rechercheure ausgebildeten Studierende der Psychologie, später die bis zu 160 Rechercheurinnen und Rechercheure aus der Marktforschung, den Sozial- und Rechtswissenschaften, der Psychologie, der Sozialpädagogik und dem Journalismus aus (vgl. ebd.).


Arbeiten, Kundinnen und Kunden und ökonomische sowie nicht ökonomische Ziele der Forschungsstelle
Mithilfe der Untersuchungen der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle sollten die wirtschaftlichen Motive und Bedürfnisse aufgedeckt werden, auf denen die Vorgänge des Wirtschaftslebens in der Produktion, im Handel, im Konsum oder im Verkehr beruhten (vgl. Paul F. Lazarsfeld Archiv, WiFo 1&2). Im Auftrag der Industrie wurde Marktforschung für Produkte wie Bier, Blumen, elektrische Geräte, Essig, Wäsche, Schokolade oder Schuhe betrieben, um die damals noch vollkommen neue Methode der Soziographie auf praktische Problematiken anwenden zu können. Denn, wie Lazarsfeld Jahre später an der Columbia University den Studierenden erklärte: „Es gibt keine edlen und unedlen Gegenstände der Forschung.“ (Das Rote Wien: 2005). Vielmehr vermittelte die Kaufhandlung wichtige allgemeine Einsichten in die Struktur der Handlung, weshalb es eine „der bleibenden Errungenschaften der Forschungsstelle war, daß sie die Kaufhandlung akademisch hoffähig gemacht hat, daß sie die Marktforschung zur akademischen Disziplin erhoben hat" (Zeisel 1969 zit. nach Wacker 1998: 124).

Beauftragt wurde die Forschungsstelle zumeist von renommierten Firmen aus der Privatwirtschaft wie die Schuh- und Strumpffirma Delka, die Ankerbrotwerke, die Schuhfirma Bally, die Schreibgerätefirma Hardtmuth oder die Lebensmittelkette Julius Meinl (vgl. Das Rote Wien 2013). Das eingenommene Geld der Forschungsstelle wurde schließlich verwendet, um größere sozialpsychologische Untersuchungen finanzieren zu können. Ein Großteil der Mitglieder war anderweitig nicht erwerbstätig, und das Geld wurde für eine Untersuchung schon lange vor  ihrer Beendigung ausgegeben. Daher mussten die älteren Studien immer über neue Aufträge finanziell abgedeckt werden, um diese erfolgreich abschließen zu können. Im Grunde wurde in der Forschungsstelle Wissenschaft nicht im Dienste des Kapitals, sondern im Sinne Jahodas im gemeinsamen Interesse an den Sozialwissenschaften und an der Politik betrieben, zumal fast alle Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei angehört hatten (vgl. Greffrath/Jahoda 1979 zit. nach: Müller: 2006). So konnte auch die im Rahmen der Forschungsstelle durchgeführte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal finanziert werden, da die Geldsumme der Wiener Arbeiterkammer und der „Rockefeller Foundation“ nicht ausgereicht hatten. Auch die neu gegründete „Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“, bei der Marie Jahoda als alleinige wissenschaftliche Leiterin fungierte und die kommerzielle Leitung dem Kaufmann Heinrich Faludi unterlag, war von einem Mangel an Betriebsmitteln betroffen. Infolgedessen trat Hermann Spitzer, der Generalsekretär des internationalen Warenhausverbandes in Paris, in die Arbeitsgemeinschaft ein und stellte einen Betrag gegen Beteiligung am Gewinn für die Fortführung des Betriebes zur Verfügung (vgl. ebd.).

Literatur